Donnerstag, 3. November 2022

Kalender 2022

Mein Großvater Oskar Jungk – Vom Peus-Schüler zum Dessauer Ido-Vereinsvorsitzenden anhängend der an wenigen Stellen leicht veränderte Text. In der Überschrift habe ich noch "Dessauer" vor "Ido-Vereinsvorsitzender" gestellt. Die anfängliche "kleine Ansprache" an die Zuhörer habe ich weggelassen und bin gleich zu den Fakten übergegangen. An verschiedenen Stellen hatte ich die beim mündlichen Vortrag üblichen Floskeln "bekanntlich" oder "wie bereits gesagt" oder "wie wir wissen" eingefügt, weil den Ido-Zuhörern das schon geläufig war. Solche Voraussetzungen haben die Leser des Dessauer Kalenders aber nicht, sodass solche Bemerkungen von mir gestrichen wurden. Das kannst Du in der Ido-Fassung aber vernachlässigen, denke ich. Zu berücksichtigen wäre hingegen ein Satz, den ich auf Seite 9 am Ende des ersten Absatzes hinzugefügt habe: "Ebenso ungeklärt ist der Verbleib von Peus’ zweisprachiger Bibliothek, die nach Günter Antons Darstellung den zweiten Weltkrieg unversehrt überstanden zu haben scheint." (Vielleicht gibt es ja unter den Leserinnen und Lesern jemand, der weiß, was aus der Peus-Bibliothek geworden ist.) Verknappt und damit verändert habe ich auch den Schluss des Textes: "Aus Anlass des 100. Jahrestages des Ido-Weltsprache-Kongresses wurde ein Replikat dieser Fahne angefertigt, das auf einem Ido-Informationsstand vor dem Dessauer Rathaus erstmals zum Einsatz kam." Mein Großvater mütterlicherseits, Oskar Jungk, begegnete Heinrich Peus zum ersten Mal im Frühjahr 1921 in Dessau. Peus war zu diesem Zeitpunkt 58 Jahre alt und erfreute sich in der industriell rasant wachsenden Muldestadt als sozialdemokratischer Politiker und Journalist eines außerordentlich hohen Bekanntheitsgrades; mein Großvater war gerade 28 geworden und am Beginn seines Berufslebens. Er hatte im November 1920 vor der Dessauer Handwerkskammer erfolgreich die Meisterprüfung als Schmied und Wagenbauer abgelegt, im Februar 1921 geheiratet und kurz darauf in der Dessauer Johannisstraße 2 eine Werkstatt für Fahrzeug-Karosseriebau und -reparatur gegründet. Wie Oskar Jungk uns Enkeln später erzählte, beeindruckte ihn der damals schon weißhaarige Peus vom ersten Moment an. Er sei stets sehr selbstbewusst aufgetreten und habe seine Zuhörer durch seine Art zu reden gefesselt, ohne sie dabei zu überfordern. Der 1862 geborene Heinrich Peus war Sohn eines Tischlermeisters im rheinländischen Elberfeld, einem Stadtteil des heutigen Wuppertal. Er muss schon während seiner Schulzeit als überdurchschnittlich begabt aufgefallen sein, sodass das von ihm besuchte Gymnasium und die Familie eines Mitschülers ihm ein Stipendium für das Studium an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin gewährten. Ab 1883 studierte er dort Theologie, Philosophie, Philologie, Geschichte und Nationalökonomie. Zwischendurch absolvierte er 1886/87 seinen einjährigen Militärdienst. 1889 verließ er die Universität ohne Abschluss, um sich als Schriftsteller und Vortragsredner zu betätigen. Schon früh machte er sich zur Aufgabe, zur Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen beizutragen. Dazu setzte er seine von seinen Zeitgenossen als überragend empfundenen rhetorischen Fähigkeiten ein. Im Zeitraum 1896 bis 1918 vertrat Peus die SPD fast 15 Jahre lang im Reichstag und von 1902 bis 1908 im anhaltischen Landtag. Von 1918 bis 1928 war er als Vertreter der stärksten Fraktion sogar Präsident des letztgenannten und 1928 bis 1930 noch einmal Mitglied des Reichstages. 1891 gründete Peus in Dessau das „Volksblatt für Anhalt“ und wurde dessen erster Redakteur. Die heute übliche Bezeichnung Chefredakteur vermied er, hatte diese Position aber bis 1928, fast vier Jahrzehnte, inne. Mein Großvater kam 1893 als erster Sohn eines Kleinbauern im kleinen Straßendorf Niesau im Herzogtum Anhalt zur Welt. Seine Vorfahren hatten sich hier angesiedelt, als das Dorf am Ostufer der Mulde zehn Kilometer südlich von Dessau 1714 neu gegründet worden war. Diese Neugründung war – wie ihre Vorgängerin - häufigem Hochwasser ausgesetzt, und keiner ihrer Bewohner konnte Reichtümer anhäufen. 1771 suchte sich der Fluss sogar ein neues Bett, sodass Niesau sich seitdem auf seinem Westufer befindet. Dies brachte es mit sich, dass mein Großvater auf eine preußische - 2 - Schule ging, weil die nur anderthalb Kilometer entfernte größere Ortschaft Schierau zu Preußen gehörte. Nach seinen Angaben bestand der Unterrichtsstoff aus Religion, Schreiben, Rechnen, Dynastiekunde, Geografie und Liedersingen. Sein Lehrer stellte bei ihm pädagogische Fähigkeiten fest und empfahl seinen Eltern, ihn auf eine weiterführende Schule zu schicken, damit er sich anschließend zum Lehrer ausbilden lassen könne. Auch wenn sein Vater als Ortsschulze der Niesauer Gemeinde vorstand, fehlte den Eltern dafür jedoch das Geld. Sie hatten inzwischen weitere vier Söhne und zwei Töchter zu versorgen. Und einen Sponsor wie bei Peus gab es in Oskar Jungks Umgebung nicht. So entschied der 14-Jährige nach Beendigung der Volksschule 1907, nicht das ihm zustehende Erbe des väterlichen Hofes anzutreten, sondern eine Schmiedelehre aufzunehmen. Zwei Brüder seiner Mutter besaßen eigene Schmiedewerkstätten. Bei seinen Besuchen hatte den Heranwachsenden die Schmiedekunst von Meistern und Gesellen beeindruckt. Insbesondere der Umgang mit glühendem Eisen und das Sprühen der Funken hatten es ihm angetan, sodass er Schmied werden wollte. Während der Lehre bei seinem Onkel in Roitzsch nahe Bitterfeld hatte Oskar vor allem mit Hufbeschlag, Wagenbau und der Instandsetzung landwirtschaftlicher Geräte zu tun. Einmal wurde er zur Reparatur der technisch beeindruckenden Futtertrocknungsanlage eines großen Gutes herangezogen. 1908 ergab sich für den 15-Jährigen Oskar erstmals die Gelegenheit, ein Kraftfahrzeug intensiv aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen: Eine Kabrio-Limousine mit gebrochener Kardanwelle war von einem Pferdegespann auf den Hof der Schmiedewerkstatt geschleppt worden, und sein Meister reparierte den Schaden. Damit war Oskars Interesse an Kraftfahrzeugen geweckt, das bis zu seinem Lebensende andauern sollte. Nach bestandener Gesellenprüfung am Ende der Lehrzeit ging Oskar Jungk 1910 auf die vorgeschriebene Wanderschaft, um bei anderen Schmiedemeistern Erfahrungen zu sammeln. Drei Jahre lang arbeitete er jeweils kurzzeitig vor allem in den nordwestlichen Regionen Deutschlands bis in den Raum Bremen. Er durchwanderte die Altmark, die Lüneburger Heide und das Weserbergland. Mehrfach heuerte er auf Elbe-Frachtschiffen an, die zwischen Hamburg und Dresden verkehrten. Mit solchen Schiffen war er auch auf der Oder unterwegs. Im Verlauf dieser drei Jahre kam mein Großvater erstmals mit dem damals als internationale Hilfssprache bezeichneten Esperanto in Berührung. Wo genau er Esperanto-Kurse besuchte, ist nicht überliefert. Es war aber dieses völkerverbindende Anliegen der Kunstsprache, das ihn nach seiner Ansiedlung in Dessau dort einen Esperanto-Verein suchen ließ. Sein beabsichtigtes Engagement in diesem Verein beruhte auch auf seinen Erfahrungen im ersten - 3 - Weltkrieg. Denn er hatte es bei seinem Marsch durch mehrere europäische Länder als großen Nachteil empfunden, sich nicht mit der einheimischen Bevölkerung verständigen zu können. In den besetzten Gebieten hatten er und gleichgesinnte Kameraden deren Bedrängnis nach Möglichkeit gemildert und dafür manches dankbare Wort erhalten, ohne dies wirklich zu verstehen. 1913 war Oskar Jungk zum Militärdienst nach Magdeburg zum Fußartillerie-Regiment „Encke“ eingezogen worden. Mit seiner Körpergröße von 1,85 Meter, breiten Schultern und einer 48er Schuhgröße fiel er schon beim Einkleiden auf. Seine Militärzeit ging nahtlos in den Kriegseinsatz über. Nach einem Marsch durch Belgien nahm er am Stellungskrieg in Nordfrankreich teil. Ab Herbst 1915 zog sein Regiment zur Unterstützung österreichischer Truppen durch Serbien bis nach Mazedonien und in die Rhodopen zur sogenannten Saloniki-Front. In den verlustreichen Kämpfen mit den Serben wurde er zum Unteroffizier befördert und zweimal mit dem „Eisernen Kreuz“ ausgezeichnet. Kurz vor Schluss des Krieges forderte die Oberste Heeresleitung Mannschaften zur Auffüllung anderer Regimenter in der Heimat an. Als er im Dezember 1918 in Magdeburg ankam, wurde er sofort demobilisiert. Das monarchische Deutschland existierte nicht mehr. 1919 - im ersten Jahr nach Kriegsende – trat mein Großvater aus der protestantischen Kirche aus und schloss sich der atheistischen Arbeiterbewegung und dem Freidenkerbund an. Wie Millionen andere Soldaten war er aus dem Krieg mit der Überzeugung heimgekehrt, dass ein gütiger Gott, der Christen seit ihrer Kindheit vertraut zu sein schien, solche Gemetzel, wie sie sie erlebt hatten, nicht zugelassen haben würde, und er glaubte nicht mehr an dessen Existenz. Zwei seiner Brüder waren im Alter von 20 und 21 Jahren im Krieg gefallen, einer in Russland, der andere in Frankreich. Die beiden anderen Brüder waren zu jung, um zum Militärdienst eingezogen zu werden. Jetzt erst konnte Oskar Jungk daran gehen, die selbst empfundenen großen Lücken in seiner Bildung zumindest zu verkleinern und sein Wissen zu erweitern. Zunächst ging er ein Jahr lang zur Handwerkerschule in Dessau. Er war damit einer von rund 1500 Schülern, die in dieser Zeit die dortige Kunstgewerbe- und Handwerkerschule besuchten. Dazu verlegte er seinen Wohnsitz nach Dessau, nunmehr Hauptstadt des Freistaates Anhalt und aufstrebender Industriestandort mit großem Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. Darüber hinaus besuchte er nebenberuflich bis 1927 jedes Winterhalbjahr die Volkshochschule. Dort interessierten ihn vor allem die Fächer Mathematik, Physik und Technisches Zeichnen. Als mein Großvater 1921 Heinrich Peus kennen lernte, lebte dieser bereits drei Jahrzehnte in Dessau. Der Kontakt kam über den Bekanntenkreis von Oskars junger Frau Marie zustande, deren Familie Donath die Wassermühle im nahegelegenen Sollnitz gehörte. - 4 - Marie hatte einige Zeit in Dessau zur Untermiete bei der Schwester von Peus’ enger Vertrauter, der Damenschneidermeisterin Elisabeth Thodte, gewohnt. Dank Maries Beziehungen konnte das frischvermählte Ehepaar eine Wohnung in der Muldstraße 20 in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Dessauer Residenzschlosses mieten. Wahrscheinlich ging es schon beim ersten Gespräch zwischen Oskar Jungk und Heinrich Peus um die Kunstsprache Ido. Denn nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hatte mein Großvater in Dessau vergeblich nach einem Esperanto-Verein gesucht. Nun hörte er wohl zum ersten Mal vom weiterentwickelten Ido, für das sich Heinrich Peus schon seit anderthalb Jahrzehnten engagierte. Mein Großvater wird nicht lange gezögert haben, dem Dessauer Ido-Verein beizutreten. Denn nun konnte er eine Sprache lernen und anwenden, die von Menschen auf der ganzen Welt gesprochen, geschrieben und verstanden wurde – wovon er schon als Wandergeselle vor dem ersten Weltkrieg geträumt hatte. Die sprachlichen Übungsstunden fanden im Probierzimmer von Elisabeth Thodtes Atelier in der Beaumontstraße, der heutigen Humboldtstraße, Nr. 1 statt - zu Fuß etwa 15 Minuten von seiner Wohnung und 10 Minuten von seiner eigenen Werkstatt entfernt. Das Haus blieb im zweiten Weltkrieg erhalten und existiert noch immer. Ob Heinrich Peus in dieser Zeit selbst an Übungsstunden teilnahm oder diese manchmal sogar leitete, ist nicht bekannt. Es ist anzunehmen, dass er dies einem erfahrenen Idisten überließ, denn er war beruflich und gesellschaftspolitisch ein ausgesprochen viel beschäftigter Mensch. Dem wöchentlich sechs Mal erscheinenden „Volksblatt für Anhalt“ stand er bis 1928 als Chefredakteur vor und veröffentlichte dort nahezu täglich eigene Artikel und Kommentare. Er engagierte sich für seine Partei, die SPD, jahrzehntelang als Dessauer Stadtverordneter, als Mitglied und zehn Jahre als Präsident des anhaltischen Landtags sowie als Abgeordneter des Reichstages, als der er zwischen 1896 und 1930 häufig wiedergewählt wurde. Größere Veranstaltungen des Dessauer Ido-Vereins fanden in der Gastwirtschaft „Schlossklause“ in der Schlossstraße zwischen Rathaus und ehemaligem Residenzschloss statt. Oskars Frau Marie hatte eine schöne Handschrift und übernahm es, die Adressen auf die Briefkuverts mit den Einladungen der Vereinsmitglieder zu schreiben. Meine Großeltern führten ein gastfreies Haus, sodass sich in ihrer nur wenige Schritte von der „Schlossklause“ entfernten Wohnung auch häufig Idisten einfanden – vor Zusammenkünften des Vereins oder danach. Der direkte persönliche Kontakt war damals die übliche Form des Gedanken- und Meinungsaustauschs. Über private Telefone verfügten nur wenige, und das Zeitalter der elektronischen Kommunikation lag noch in weiter Ferne. - 5 - Möglicherweise beeindruckten Heinrich Peus die allgemeine Wissbegierde meines Großvaters und die Vielfalt seiner Interessen. Jedenfalls müssen beide ziemlich bald Sympathie füreinander empfunden haben, wobei Peus den Part des väterlichen Freundes übernahm. Wie damals nicht ungewöhnlich, besuchte Heinrich Peus meine Großeltern oft in ihrer Wohnung, wenn er zufällig in der Nähe war, um sich mit dem eine Generation jüngeren Oskar Jungk zu vielfältigen gesellschaftlichen Fragen auszutauschen. 1925 gelang es dem linksliberalen Dessauer Oberbürgermeister Fritz Hesse mit maßgeblicher Unterstützung des einflussreichen anhaltischen Landtagspräsidenten und Vorsitzenden der Dessauer Stadtverordnetenversammlung Peus, die in ihrem Fortbestand gefährdete Staatliche Kunsthochschule Bauhaus von Weimar nach Dessau zu holen. Schon im folgenden Jahr war das Bauhaus-Gebäude in Dessau fertiggestellt, nunmehr unter der Bezeichnung Hochschule für Gestaltung. Geleitet wurde es zunächst weiterhin von Walter Gropius, dem Bauhaus-Gründer. Mit der Ansiedlung des Bauhauses erlangte Dessau wieder internationale Berühmtheit und zog zahllose Besucher aus dem In- und Ausland an, wie dies anderthalb Jahrhunderte zuvor schon einmal das Dessau-Wörlitzer Gartenreich getan hatte. Oskar Jungk interessierte sich sehr für die neue Denkrichtung des Bauhauses, besuchte Vorträge und sammelte einschlägige Zeitungsartikel. Einmal entdeckte er auf einer Ausstellung eine kleine Zeichnung von Wassily Kandinsky, einem der bedeutenden Bauhaus-Künstler, die ihm sehr gefiel. Sie wurde für 35 Reichsmark angeboten. Er beratschlagte mit seiner Frau Marie, ob sie die Zeichnung erwerben sollten. Sie entschieden sich schließlich gegen den Kauf, weil der Preis der Zeichnung einer Monatsmiete für ihre Wohnung entsprach und sie kaum finanzielle Reserven hatten. Oskar Jungks eigene Fahrzeugreparatur-Werkstatt war Ende 1922 nach nicht einmal zwei Jahren ihres Bestehens in Konkurs gegangen, und er arbeitete nun als angestellter Meister in der weitaus größeren Autowerkstatt Grabe in der Kavalierstraße im Dessauer Zentrum. 1928 zogen Marie und Oskar Jungk mit ihren drei Kindern in eine moderne Neubauwohnung in der Raguhner Straße 75, knapp drei Kilometer südlich des Dessauer Zentrums. Dorthin kam Heinrich Peus zusammen mit Elisabeth Thodte öfter, wenn sie sonntags den Fortgang der Bauarbeiten an den neuartigen Laubenganghäusern in der Peterholzstraße nahe der Gropius-Siedlung in Dessau-Törten beobachteten. Peus engagierte sich sehr dafür, die Wohnbedingungen der arbeitenden Menschen zu verbessern. Der Bau der mehrstöckigen Laubenganghäuser war kostengünstig, sodass auch die Mieten in erschwinglicher Höhe liegen konnten. Aber auch sonst waren Peus und seine engste Mitarbeiterin häufig zu Gast bei Jungks. Wie sich die älteste Tochter Brunhild, meine Mutter, erinnert, wurden oft interessante Gespräche geführt. Dabei - 6 - ging es um literarische Neuerscheinungen und gedankliche Ausflüge in die deutsche Geschichte. Sie erlebte beeindruckende Rezitationen unter anderem von Teilen des Goetheschen „Faust“. 1922 war Oskar Jungk in die SPD eingetreten, in der Heinrich Peus schon drei Jahrzehnte aktiv war. Manchmal wurde der Teilnehmerkreis deshalb um Freunde von Oskar und Marie Jungk vergrößert, die SPD-Wähler waren. Dabei gab es teilweise heftige Diskussionen über die aktuelle politische Lage, bei denen Peus als erfahrener Politiker mit sonorer Stimme den Ton angab. Anfang der 1930er Jahre war der erstarkende Nationalsozialismus häufiges Thema. Peus glaubte nicht, dass Hitler an die Macht kommen würde. Er ging davon aus, dass die NSDAP bei Wahlen allein keine regierungsfähige Mehrheit erlangen könne, was tatsächlich zutraf. Im Gegenzug zu seinen Besuchen lud Peus meine Großeltern zu sich nach Hause ein, zunächst in das Haus An der Hohen Lache 14 und später im Kiefernweg 18. Meine Großmutter Marie berichtete ihren Kindern begeistert von der Fußbodenheizung, die sich Peus hatte einbauen lassen. Mit großer Wahrscheinlichkeit spornte dieses Interesse am Gedankenaustausch mit Peus meinen Großvater auch zu intensiver Beschäftigung mit der Plansprache Ido an. Er beherrschte schon nach kurzer Zeit nicht nur Ido, sondern auch die von Peus entwickelte Ido-Stenografie, die dieser selbst als Ido-Schnellschrift bezeichnete. Mit dieser zunehmenden Kenntnis der neuen Sprache begann eine rege Korrespondenz mit Gleichgesinnten vor allem in Südamerika, insbesondere Argentinien, dem Baltikum und Skandinavien, speziell Norwegen und Schweden. Etliche dieser Kontakte bestanden auch nach der Auflösung des Ido-Vereins 1933 fort, wie sich Tochter Brunhild erinnert. Meist erfolgte der Schriftwechsel per Postkarte, manchmal auch per Ansichtskarte, seltener per Brief. Oskar musste seinen Kindern den Text auf den Karten vorlesen und übersetzen. Im Atlas vollzogen sie nach, in welchem Land und in welcher Stadt die Postkarte abgeschickt worden war. Die Zahl der bei Oskar Jungk eingetroffenen Briefe und Karten von Ido-Freunden in aller Welt belief sich auf mehr als eintausend. Es ist nicht bekannt, ob und wann Heinrich Peus, der auch zeitweise Präsident des deutschen Ido-Bundes war, den Vorsitz des Dessauer Ido-Vereins an meinen Großvater übergab. Möglicherweise stand zwischenzeitlich noch ein anderes erfahrenes Mitglied des Vereins an dessen Spitze. In Oskar Jungks handschriftlichen Aufzeichnungen über seinen Lebensweg aus dem Jahr 1964 heißt es knapp, seine Fremdsprachenkenntnisse verdanke er der Teamarbeit im Ido-Verein in den 1920er Jahren. Bei dessen Auflösung 1933 sei er sein Vorsitzender gewesen. Da Oskar Jungk mit drei Jahrzehnten Abstand das Wort „Auflösung“ verwendet, scheint der Verein seine - 7 - Tätigkeit angesichts der veränderten politischen Verhältnisse aus eigenem Entschluss eingestellt zu haben. Vermutlich verringerten sich die Begegnungen mit Peus, der nach Machtübernahme der Nationalsozialisten all seines politischen Einflusses verlustig ging, nach dem Verbot der SPD. Mein Großvater wurde 1933 zweimal jeweils mehrere Wochen inhaftiert, einmal als Stellvertreter des Dessauer Standortführers des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold im März und das andere Mal nach dem Verbot der SPD im Juni 1933. Anschließend durfte er Dessau drei Jahre lang nicht verlassen und musste sich täglich bei der Polizei melden. Es ist davon auszugehen, dass die Selbstauflösung des Dessauer Ido-Vereins auf diese politische Entwicklung zurückzuführen ist. Nach der Machtübernahme Hitlers zog Peus sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Wie aus seinem schriftlichen Nachlass ersichtlich ist, verfasste er jedoch weiterhin umfangreiche Aufsätze zu grundlegenden gesellschaftspolitischen Themen. Als er 1936 schwer erkrankte, quartierte sich seine engste Vertraute, Elisabeth Thodte, in seinem Haus ein, um ihn zu betreuen. Seine Töchter lebten nicht mehr, und das Verhältnis zu seinem Sohn war zerrüttet. Nach seinem Tod 1937 nahmen auf dem Friedhof etwa 400 Menschen Abschied von Heinrich Peus, darunter mein Großvater. Die freundschaftliche Beziehung zu Elisabeth Thodte hielten meine Großeltern über Peus’ Tod hinaus aufrecht. Als im Frühjahr 1939 die Schwester meiner Großmutter, Margarete Bartels, in Dessau in unmittelbarer Nachbarschaft zur Synagoge eine Zuschneidewerkstatt für Damenkleider eröffnete, übernahm die Damenschneidermeisterin Thodte das Zuschneiden. Meine Großmutter spezialisierte sich auf die Anfertigung von Plisseeröcken. Damit wurde die persönliche Freundschaft noch um eine berufliche Komponente erweitert. Indem er 1938 die Meisterwürde auch im Kraftfahrzeughandwerk erlangte, qualifizierte sich Oskar Jungk für die Ausbildung der Lehrlinge in der Firma Auto-Grabe. Auf diese Weise kam nun seine Fähigkeit der Wissensvermittlung zum Tragen, die bereits sein Volksschullehrer bei ihm wahrgenommen hatte. Bis zu seinem Ausscheiden aus der Autowerkstatt Ende 1962 bildete er mehr als 150 Lehrlinge aus. 1942 avancierte er zum Werkstattleiter und hatte die Arbeit der etwa 80 Mitarbeiter zu organisieren und diese anzuleiten. Im Verlauf des Krieges wurde die Hälfte der Belegschaft zum Militärdienst eingezogen. Um den Bedarf an Arbeitskräften auszugleichen, erhielt Auto-Grabe holländische und belgische Zivilinternierte und später französische Kriegsgefangene, darunter einige Spezialisten. Die verbliebenen, meist älteren Kollegen taten nach Darstellung meines Großvaters hinsichtlich Unterbringung, Arbeitskleidung und Verpflegung das Möglichste für die zwangsverpflichteten Arbeiter. Als diese nach Kriegsende in ihre Länder zurückkehrten, bedankten sie sich - 8 - nachdrücklich bei der Belegschaft der Auto-Werkstatt für die solidarische Unterstützung. Als im Verlauf des zweiten Weltkriegs Benzin und Dieselkraftstoff für den nichtmilitärischen Bereich rationiert wurden, entwickelte Oskar Jungk für die verschiedenen Kleintransporter und Pkw der umfangreichen Kundschaft von Auto-Grabe einen Holzvergaser, der die Flüssigkraftstoffe ersetzte. Diese Antriebsart kam auch noch in den ersten Nachkriegsjahren zum Einsatz. Durch ein unglückliches Zusammentreffen äußerer Umstände verbrannten in der Endphase des zweiten Weltkriegs fast sämtliche Ido-Schriftstücke meines Großvaters: Lehrbücher, eigene Aufzeichnungen und Korrespondenzen sowie die unzähligen Posteingänge. Beim vorletzten und zugleich größten Bombenangriff der Alliierten auf Dessau am 7. März 1945 stürzte eine Wand des mehrstöckigen Hauses ein, in dem die Familie Jungk wohnte. Daraufhin wurden alle Möbelstücke und sämtliches Inventar mit Ausnahme des Klaviers in eine Scheune auf dem Bauernhof der Vorfahren in Niesau ausgelagert. In diesem Gehöft hatte die Wehrmacht eine Stabsstelle eingerichtet. Nachdem sie den Ort geräumt hatte, zog die US-Army in Niesau ein und bestimmte ihrerseits den Jungkschen Hof zu ihrer Kommandozentrale. In Kenntnis dieser „Nachfolge“ und der örtlichen Gegebenheiten nahm die Wehrmacht den Bauernhof von der östlichen Seite der Mulde unter gezielten Artilleriebeschuss und setzte dabei die Scheune in Brand, in der Oskars Familie ihr gesamtes Mobiliar untergestellt hatte. Dieses wurde dabei restlos vernichtet – und damit auch fast alle Ido-Materialien. Das Klavier in der Dessauer Wohnung blieb unbeschädigt. Wahrscheinlich war es Elisabeth Thodte, die der spätere Ehrenpräsident der Internationalen Ido-Union Günter Anton an einem Sonntag im Jahr 1948 mit seinen Köthener Idisten in Dessau traf. In der Sonderausgabe des „Ido-Saluto!“, der Publikation der Deutschen Ido-Gesellschaft, zur Internationalen Ido-Konferenz 2012 in Dessau teilte er mit: „Bei dieser Gelegenheit führte mich eine alte Frau in ein Zimmer, wo viele Heftchen der zweisprachigen Bibliothek von Heinrich Peus waren und auch eine Ido-Fahne.“ Leider wisse er nicht, wo die Bibliothek und die schöne Ido-Fahne geblieben sind. Sicher sei alles verloren gegangen. Bevor Peus im April 1937 starb, hatte er Elisabeth Thodte seinen Nachlass mit der Verfügung übergeben, ihn aufzubewahren, bis man sich eines Tages würdigend seiner erinnere. Anfang der 1950er Jahre reichte Elisabeth Thodte den persönlichen schriftlichen Nachlass Heinrich Peus’ und die Fahne des Dessauer Ido-Vereins in einem großen braunen Reisekoffer an meinen Großvater als den letzten Vorsitzenden des Dessauer Ido-Vereins weiter. Sie verband dies mit der Maßgabe, den Nachlass später seiner Tochter Brunhild anzuvertrauen, von der sie wusste, dass - 9 - sie Lehrerin für Deutsch und Englisch im nahen Wörlitz und im dortigen Kulturbund engagiert war, „bis Heinrich Peus’ Zeit gekommen ist“. Diese Weitergabe erfolgte zwanzig Jahre später, kurz vor Oskar Jungks Tod. Mitte der 1980er Jahre hielt Brunhild Höhling, meine Mutter, die Zeit für gekommen, Peus’ bedeutsames gesellschaftspolitisches Erbe der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Den persönlichen schriftlichen Nachlass stellte sie als Dauerleihgabe dem Dessauer Stadtarchiv zur Verfügung. Ungeklärt bleibt, warum es in Dessau nicht gelang, an der Plansprache Ido Interessierte wieder in einem Verein zusammen zu führen. Ebenso ungeklärt ist der Verbleib von Peus’ zweisprachiger Bibliothek, die nach Günter Antons Darstellung den zweiten Weltkrieg unversehrt überstanden zu haben scheint. Ohne dies schon entsprechend einordnen zu können, erlebte mein Großvater den Höhepunkt seiner Ido-Vereins-Mitgliedschaft zweifellos im Juli 1922 – mit dem II. Ido-Weltsprache-Kongress in Dessau, dessen einhundertster Jahrestag 2022 begangen wurde. Mit dem Volkshaus „Tivoli“, das Heinrich Peus und Heinrich Deist, Geschäftsführer des „Volksblattes für Anhalt“ und Mitglied des Dessauer Stadtrates, 1910 für die SPD erworben hatten, stand dem Dessauer Ido-Verein ein der Bedeutung des Kongresses angemessener Veranstaltungsort zur Verfügung. Wie aus der damals vom Dessauer Photohaus Lind angefertigten Fotografie zu schlussfolgern ist, zählte der Dessauer Ido-Verein vor 100 Jahren mindestens 33 Mitglieder, eine beeindruckende Zahl, die sicher in erster Linie auf das Wirken des charismatischen Heinrich Peus zurückzuführen ist. Peus sitzt auf diesem Gruppenbild in der Mitte der ersten Reihe, links neben sich seinen Enkel und zu seiner Rechten seine engste Mitarbeiterin Elisabeth Thodte. Mein Großvater steht in der dritten Reihe hinter Peus direkt vor der Fahne des Dessauer Ido-Vereins. Aus Anlass des 100. Jahrestages des Ido-Weltsprache-Kongresses wurde ein Replikat dieser Fahne angefertigt, das auf einem Ido-Informationsstand vor dem Dessauer Rathaus erstmals zum Einsatz kam.++

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Bangladesh

Bona jorno, kara prezenta amiki ! Das muss wohl nicht übersetzt werden. Das ist Ido, eine bereits vor über hundert Jahren aus dem Espera...