Mittwoch, 17. August 2022

Redetext Vortrag kurz

Mein Großvater Oskar Jungk – vom Peus-Schüler zum Ido-Vereinsvorsitzenden

(Kurzfassung)

Mein Großvater mütterlicherseits, Oskar Jungk, begegnete Heinrich Peus zum ersten Mal im Frühjahr 1921 in Dessau. Peus war zu diesem Zeitpunkt 58 Jahre alt und erfreute sich in der industriell rasant wachsenden Muldestadt als sozialdemokratischer Politiker und Journalist eines außerordentlich hohen Bekanntheitsgrades; mein Großvater war gerade 28 geworden und am Beginn seines Berufslebens. Wie er uns Enkeln später erzählte, beeindruckte ihn der damals schon weißhaarige Peus vom ersten Moment an. Er sei stets sehr selbstbewusst aufgetreten und habe seine Zuhörer durch seine Art zu reden gefesselt, ohne sie dabei zu überfordern.


Mein Großvater kam 1893 als erster Sohn eines Kleinbauern im kleinen Straßendorf Niesau im Herzogtum Anhalt zur Welt. Sein Lehrer an der Volksschule stellte bei ihm pädagogische Fähigkeiten fest und empfahl seinen Eltern, ihn auf eine weiterführende Schule zu schicken, damit er sich anschließend zum Lehrer ausbilden lassen könne. Dafür fehlte den Eltern jedoch das Geld. So entschied der 14-Jährige, nicht das Erbe des väterlichen Hofes anzutreten, sondern eine Schmiedelehre aufzunehmen.


Nach bestandener Gesellenprüfung ging Oskar Jungk 1910 auf Wanderschaft. Dabei kam er erstmals mit dem damals als internationale Hilfssprache bezeichneten Esperanto in Berührung. Es war das völkerverbindende Anliegen der Kunstsprache, das ihn beeindruckte. Sein beabsichtigtes Engagement in dieser Richtung wurde später durch seine Erfahrungen als Soldat im ersten Weltkrieg verstärkt.

Als mein Großvater Heinrich Peus kennen lernte, lebte dieser bereits drei Jahrzehnte in Dessau. Wahrscheinlich ging es schon in ihrem ersten Gespräch um die Kunstsprache Ido. Denn nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hatte mein Großvater in Dessau vergeblich nach einem Esperanto-Verein gesucht. Nun hörte er wohl zum ersten Mal vom weiterentwickelten Ido, für das sich Peus bekanntlich schon seit anderthalb Jahrzehnten engagierte.


Im Dessauer Ido-Verein konnte Oskar Jungk nun eine Sprache lernen und anwenden, die von Menschen auf der ganzen Welt gesprochen, geschrieben und verstanden wurde. Die sprachlichen Übungsstunden fanden im Probierzimmer der Damenschneidermeisterin Elisabeth Thodte statt, einer Vertrauten von Peus. Ob dieser selbst an Übungsstunden teilnahm oder diese manchmal sogar leitete, ist nicht bekannt. Es ist anzunehmen, dass er dies einem erfahrenen Idisten überließ, denn er war beruflich und gesellschaftspolitisch ein ausgesprochen viel beschäftigter Mensch. Größere Veranstaltungen des Dessauer Ido-Vereins fanden in der Gastwirtschaft „Schlossklause“ in der Schlossstraße zwischen Rathaus und ehemaligem Residenzschloss statt.


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Möglicherweise beeindruckten Heinrich Peus die allgemeine Wissbegierde meines Großvaters und die Vielfalt seiner Interessen.

Jedenfalls müssen beide ziemlich bald Sympathie füreinander empfunden haben, wobei Peus den Part des väterlichen Freundes übernahm.


1925 gelang es dem linksliberalen Dessauer Oberbürgermeister Fritz Hesse mit maßgeblicher Unterstützung des einflussreichen anhaltischen Landtagspräsidenten und Vorsitzenden der Dessauer Stadtverordnetenversammlung Peus, die in ihrem Fortbestand gefährdete Staatliche Kunsthochschule Bauhaus von Weimar nach Dessau zu holen. Oskar Jungk interessierte sich sehr für die neue Denkrichtung des Bauhauses, besuchte Vorträge und sammelte einschlägige Zeitungsartikel.


1928 zogen Marie und Oskar Jungk mit ihren drei Kindern in eine moderne Neubauwohnung. Dorthin kam Heinrich Peus zusammen mit Elisabeth Thodte öfter, wenn sie sonntags den Fortgang der Bauarbeiten an den neuartigen Laubenganghäusern in Dessau-Törten beobachteten. Bekanntlich engagierte sich Peus sehr dafür, die Wohnbedingungen der arbeitenden Menschen zu verbessern. Bei einem Imbiss und einer Tasse Tee wurden interessante Gespräche über literarische Neuerscheinungen geführt und gedankliche Ausflüge in die deutsche Geschichte unternommen.


Mit großer Wahrscheinlichkeit spornte dieses Interesse am Gedankenaustausch mit Peus meinen Großvater auch zu intensiver Beschäftigung mit der Plansprache Ido an. Er beherrschte schon nach kurzer Zeit nicht nur Ido, sondern auch die von Peus entwickelte Ido-Stenografie. Mit dieser zunehmenden Kenntnis der neuen Sprache begann eine rege Korrespondenz mit Gleichgesinnten vor allem in Südamerika, insbesondere Argentinien, dem Baltikum und Skandinavien, speziell Norwegen und Schweden.


Etliche dieser Kontakte bestanden auch nach der Auflösung des Ido-Vereins 1933 fort. Meist erfolgte der Schriftwechsel per Postkarte, manchmal auch per Ansichtskarte, seltener per Brief. Oskar musste seinen Kindern den Text auf den Karten vorlesen und übersetzen. Im Atlas vollzogen sie nach, in welchem Land und in welcher Stadt die Postkarte abgeschickt worden war. Die Zahl der bei Jungks eingetroffenen Briefe und Karten von Ido-Freunden in aller Welt belief sich auf mehr als 1000.

Es ist nicht bekannt, ob und wann Peus den Vorsitz des Dessauer Ido-Vereins an meinen Großvater übergab. Möglicherweise stand zwischenzeitlich noch ein anderes erfahrenes Mitglied des Vereins an dessen Spitze. Vermutlich verringerten sich die Begegnungen mit Peus nach dem Verbot der SPD im Juni 1933. Mein Großvater wurde in diesem Jahr zweimal inhaftiert. Anschließend durfte er Dessau drei Jahre lang nicht verlassen und musste sich täglich bei der Polizei melden. Es ist davon auszugehen, dass die Selbstauflösung des

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Dessauer Ido-Vereins auf diese politische Entwicklung zurückzuführen ist.


Nach der Machtübernahme Hitlers zog Peus sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Als er 1936 schwer erkrankte, quartierte sich seine engste Vertraute, Elisabeth Thodte, in seinem Haus ein, um ihn zu betreuen. Nach seinem Tod 1937 nahmen auf dem Friedhof etwa 400 Menschen Abschied von Heinrich Peus, darunter mein Großvater.


Durch ein unglückliches Zusammentreffen äußerer Umstände verbrannten in der Endphase des zweiten Weltkriegs fast sämtliche Ido-Schriftstücke meines Großvaters: Lehrbücher, eigene Aufzeichnungen und Korrespondenzen sowie die unzähligen Posteingänge aus fernen Ländern.


Wahrscheinlich war es Elisabeth Thodte, die der spätere Ehrenpräsident der Internationalen Ido-Union Günter Anton an einem

Sonntag im Jahr 1948 mit seinen Köthener Idisten in Dessau traf. 2012 teilte er in der Sonderausgabe des „Ido-Saluto!“ mit: „Bei dieser Gelegenheit führte mich eine alte Frau in ein Zimmer, wo viele Heftchen der zweisprachigen Bibliothek von Heinrich Peus waren und auch eine Ido-Fahne.“ Leider wisse er nicht, was aus der Bibliothek geworden ist. Bevor Peus im April 1937 starb, hatte er Elisabeth Thodte seinen Nachlass mit der Verfügung übergeben, ihn aufzubewahren, bis man sich eines Tages würdigend seiner erinnere.


Anfang der 1950er Jahre reichte Elisabeth Thodte den persönlichen schriftlichen Nachlass Peus’ und die Fahne des Dessauer Ido-Vereins in einem Reisekoffer an meinen Großvater als den letzten Vereinsvorsitzenden weiter. Er übergab den Koffer zwanzig Jahre später kurz vor seinem Tod seiner Tochter Brunhild. Mitte der 1980er Jahre hielt diese die Zeit für gekommen, Peus’ bedeutsames gesellschaftspolitisches Erbe der Allgemeinheit zugänglich zu machen und stellte diesen Nachlass als Dauerleihgabe dem Dessauer Stadtarchiv zur Verfügung.++


 

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Bangladesh

Bona jorno, kara prezenta amiki ! Das muss wohl nicht übersetzt werden. Das ist Ido, eine bereits vor über hundert Jahren aus dem Espera...